Grenzüberschreitendes Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus
Gedenkfeier zum 27. Januar 2023 in der Konstantinbasilika in Trier; © Landtag RLP / David Kliewer
Ansprache des Landtagspräsidenten Hendrik Hering; © Landtag RLP / David Kliewer
Ansprache des Gastredners Ulrich Wickert; © Landtag RLP / David Kliewer
Ansprache der Ministerpräsidentin Malu Dreyer; © Landtag RLP / David Kliewer
Im Zentrum des Gedenkens stand die Frage, wie die Zeit der NS-Diktatur bis heute in den Familien nachwirkt. Landtagspräsident Hendrik Hering und Ministerpräsidentin Malu Dreyer richteten das Wort an die Gäste. Die Gedenkansprache hielt Journalist und Autor Ulrich Wickert, der als profunder Kenner der deutsch-französischen Geschichte und Erinnerungskultur gilt. Zudem berichteten Nachfahren von NS-Opfern in der Großregion.
Landtagspräsident: Kultur der Verantwortung
„Davon haben wir nichts gewusst – diesen Satz hat wohl fast jeder von uns schon von seinen Eltern oder Großeltern gehört“, sagte Landtagspräsident Hendrik Hering. Laut einer ZDF-Umfrage aus dem Jahr 2020 seien 81 Prozent der Befragten der Meinung, vom Holocaust hätten die meisten Deutschen „nichts“ oder „nichts Genaues“ gewusst. „War Auschwitz damals also vor allem weit weg? Und ist Auschwitz heute wieder weit weg?“, fragte Hering. Ziele der künftigen Erinnerungsarbeit in Rheinland-Pfalz und der Großregion seien daher, das persönliche Umfeld und die Erinnerungsorte der Region stärker in den Blick zu nehmen, ein größeres Augenmerk auf die politische Bildung an Schulen zu legen sowie insgesamt eine Kultur der Anteilnahme und Verantwortung zu etablieren.
Neue Perspektiven: Aufarbeitung von Familiennarrativen
Der Landtag Rheinland-Pfalz engagiere sich mit eigenen Projekten zur Erinnerungskultur und Demokratiebildung, sagte Hering. So befasse sich ein aktuelles Forschungsprojekt der Universität Koblenz im Auftrag des Landtags mit der Aufarbeitung von Familiennarrativen in der dritten und vierten Generation nach dem Nationalsozialismus. Das Projekt solle das Geschichtsbewusstsein stärken und politische Bildung fördern. „Mit anderen Worten: Es soll unseren Blick weiten und neue Perspektiven zulassen – auch mit Blick auf die Zukunft unserer Erinnerungskultur“, sagte Hering und betonte, wie wichtig es sei, miteinander ins Gespräch zu kommen und voneinander zu lernen: „Das ist das Gegenteil von Gleichgültigkeit, das Gegenteil von ‚weit weg‘. Es ist Ausdruck einer lebendigen, starken und auch selbstkritischen Gesellschaft, wie wir sie mehr denn je brauchen“. 78 Jahre seien seit dem 27. Januar 1945 vergangen. Aus Feinden von damals seien heute vielfach Freunde geworden. Diese Freundschaft sei nicht „einfach so“ passiert, sondern erwachsen aus den persönlichen Begegnungen und dem Engagement vieler Frauen und Männer.
Ulrich Wickert:
In einer sehr persönlichen Rückschau erinnerte sich Ulrich Wickert an seine Kindheit und Jugend in Deutschland und Frankreich. Wickert berichtete, dass der Krieg und seine Folgen damals noch sehr präsent gewesen seien. Zudem gab Wickert einen Einblick in die Hintergründe seiner journalistischen Arbeit und schilderte seine persönlichen Erlebnisse mit prägenden politischen Persönlichkeiten. Er zeichnete nach, wie sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich entwickelte. Ab 1969 habe seine journalistische Laufbahn beim WDR-Fernsehen begonnen. Aufgrund seiner Französischkenntnisse habe er für die ARD zudem immer wieder aus Paris über die Präsidentschaftswahlen berichtet. Wickert beschrieb, wie er in den darauffolgenden Jahrzehnten die deutsch-französische Annäherung aus nächster Nähe beobachten konnte. Aus aktueller Perspektive betonte Wickert, dass in Deutschland und Frankreich viel mehr in die Zukunft investiert werden müsse: „Immer weniger Schüler lernen Französisch oder Deutsch. Zu wenig wird die Kultur der Nachbarn unterrichtet. Ich halte das für verhängnisvoll. Zu wenig wird die Bedeutung der Gemeinsamkeit für Europa vermittelt. Zu wenig in den Schulen, zu wenig in der Politik. Auch das halte ich für gefährlich.“ Er forderte daher, sich mehr für die Spracherziehung und für die Zukunft von Europa einzusetzen. „Erinnerung muss uns anregen, nach vorn zu schauen, alles zu tun, um die Zukunft vertrauensvoll zu gestalten und Fehler zu verhindern“, sagte Wickert.
Gesprächsrunde mit Nachfahren von NS-Opfern in der Großregion
Im Rahmen des grenzüberschreitenden Gedenkens berichteten vier Gäste aus der Großregion davon, wie sie ihre Familiengeschichten an junge Menschen weitergeben und sich für Frieden und Versöhnung einsetzen. Viviane Lipszstadt aus Belgien, Henri Juda aus Luxemburg, Thierry Nicolas aus Frankreich und Horst Bernard aus Deutschland erzählten von ihren Erinnerungen. Die Eltern der Gäste wurden unter dem NS-Regime verfolgt, ihr Leiden prägte auch die nachfolgende Generation. Schülerinnen und Schüler des Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasiums Schweich hatten zuvor die Biografien der Gäste vorgestellt. Die Gedenkveranstaltung wurde musikalisch von einem Projektchor unter der Leitung des Kirchenmusikdirektors Martin Bambauer mitgestaltet.
Ministerpräsidentin: Freiheitsrechte und Demokratie verteidigen
„Die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus ist nicht nur auf die Vergangenheit gerichtet. Sie nimmt uns in die Pflicht, in unserer eigenen Gegenwart Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu verteidigen“, sagte Ministerpräsidentin Malu Dreyer. Putins Krieg in der Ukraine stelle uns alle noch einmal neu vor die Notwendigkeit, entschieden für Demokratie und Freiheitsrechte einzutreten. Es schmerze unendlich zu sehen, dass durch die Aggression Russlands auch Menschen, die in jungen Jahren die Gräuel des Zweiten Weltkriegs, die Ghettos und Lager des NS-Terrors überlebt haben, nun in hohem Alter erneut Opfer eines menschenverachtenden Krieges werden. Die Ministerpräsidentin betonte, dass die Gedenkarbeit eine tragende Säule in der politischen Arbeit in Rheinland-Pfalz bleibe. Beim Thema „Grenzüberschreitende Gedenkarbeit in der Großregion“ gebe es bereits eine Fülle spannender Projekte, die weiter vorangebracht würden. Sie nannte als Beispiele die rheinland-pfälzische Kooperation mit der Gedenkstätte Natzweiler-Struthof und der Gedenkarbeit im Elsass und in Baden-Württemberg oder die gemeinsame Arbeitsgruppe Politische Bildung in der Großregion. „Unermüdlich gegen das Vergessen anzugehen und die Erinnerungen an die Opfer des Nationalsozialismus wachzuhalten, wird immer unsere Verantwortung bleiben. In der Großregion schlägt das Herz Europas. Lassen Sie uns im Bewusstsein der Geschichte weiter gemeinsam eine gute Zukunft gestalten“, sagte Ministerpräsidentin Malu Dreyer.
Eine Aufzeichnung der Sitzung findet sich in den kommenden Tagen auf der Website des Landtags.
Zur Person: Ulrich Wickert
Der Journalist und Autor Ulrich Wickert, 1942 in Tokio als Sohn eines deutschen Diplomaten geboren, verbrachte seine Jugend und Schulzeit in Heidelberg und Paris. Seine tiefe Verbundenheit mit Frankreich wird er später in zahlreichen Büchern festhalten. Er arbeitete als Hörfunkautor und Journalist des Magazins Monitor, berichtete als Auslandskorrespondent aus Washington, New York und Paris und moderierte 15 Jahre lang die Tagesthemen. Wickert ist ein profunder Kenner der französischen Erinnerungskultur. Für seine Verdienste um die deutsch-französischen Beziehungen wurde er 2005 zum Offizier der Ehrenlegion ernannt. Wickert ist Secrétaire perpétuel der 2006 gegründeten Académie de Berlin, die sich dem deutsch-französischen Kulturaustausch widmet. Zuletzt erschien 2021 sein Buch „Frankreich muss man lieben, um es zu verstehen“.
Hintergrund 27. Januar:
Seit 25 Jahren erinnert der rheinland-pfälzische Landtag am 27. Januar an die Opfer des Nationalsozialismus. Die erste Sondersitzung des Landtags fand 1998 in der damals neu eingerichteten „Gedenkstätte ehemaliges KZ Osthofen“ statt. Damit ist der Landtag Rheinland-Pfalz eines der ersten Landesparlamente in Deutschland, das die Anregung des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog von 1996 aufgriffen hatte und den Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz als Gedenktag begeht.
Hintergrund Interregionaler Parlamentarierrat (IPR):
Rheinland-Pfalz hat für die Jahre 2023 und 2024 die Präsidentschaft des Interregionalen Parlamentarierrats (IPR) übernommen. Der IPR ist eine beratende parlamentarische Versammlung der Großregion, die Empfehlungen formuliert. Die Großregion besteht aus dem Saarland, Rheinland-Pfalz, der französischen Region Grand Est, Luxemburg, der Fédération Wallonie-Bruxelles, der Wallonie und der deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens. Der IPR wird gebildet aus Präsidentinnen und Präsidenten sowie Vertreterinnen und Vertretern der regionalen Parlamente der Teilregionen sowie des Regionalrats von Grand Est, Frankreich. Die IPR-Mitglieder teilen sich in sechs thematische Kommissionen ein und erarbeiten dort gemeinsame Empfehlungen für die regionalen Parlamente.
Ein Schwerpunkt der rheinland-pfälzischen Präsidentschaft ist die Stärkung der Erinnerungskultur und des gemeinsamen Gedenkens an historisch-politische Ereignisse. Ein Meilenstein ist eine Fachtagung zur Erinnerungskultur im Jahr 2024, bei der das Thema des gemeinsamen Gedenkens und des Umgangs mit der Geschichte aus einer wissenschaftlichen und praktischen Sicht beleuchtet werden soll. Am 30. Juni 2023 und am 08. Dezember 2023 finden die Plenarsitzungen des IPR in Rheinland-Pfalz statt.